Lutz von Grünhagen
Dezember 2001

Wir Menschen sind eine besondere Tierart, weil wir intelligent genug sind, um Erfahrungen an nachfolgende Generationen weiterzugeben, so daß in einer Wissenschafts- und Technikgeschichte unser Wissen und Können immer umfangreicher wird. Diese zunehmenden Fähigkeiten werden bisher nicht nur zu unserem Nutzen verwendet, sondern sie geraten systematisch immer wieder auch in den Dienst von Feindschaft und Zerstörung. Dabei bedeutet die zunehmende Destruktivität praktisch einen zunehmenden Unverstand und sie könnte sich demnächst kettenreaktionsartig verstärken und die ganze Menschheit in eine Katastrophe stürzen.
Insgesamt scheint die Menschheit ein getriebenes System zu sein, in das mit der Zeit immer mehr Wissen getrieben wird und das auf einen Verzweigungspunkt zutreibt, an dem durch einen Symmetriebruch eine neue Ordnung entsteht:

Die zunehmenden Schwankungen zwischen "gut" und "böse" im Verhalten haben ihren Ursprung bei unseren frühen Vorfahren, die noch keine Menschen gewesen sind und von Natur aus noch nicht intelligent genug, um alle ihre Interessen friedlich koordinieren zu können. So regelten sich die sozialen Beziehungen wie bei allen bisherigen Säugetieren zum Teil mit Gewalt, also mit Bedrohungen und tatsächlichen Angriffen, und so war die Wirkung der Technik von Anfang an ambivalent und diente sowohl freundlichen und konstruktiven als auch feindlichen und destruktiven Aktivitäten. Je wirksamer die Technik im Laufe der letzten Jahrtausende wurde, um so größer wurde ihr Zwiespalt zwischen nützlichen und schädlichen Wirkungen.

Somit zeigt das System Menschheit die typischen Schwankungen eines sich selbst organisierenden Systems vor einem Verzweigungspunkt. Dort entscheiden Zufälle und äußerst geringe Kräfte über das Schicksal des Systems.

Die Menschheit treibt auf die größte und in vieler Hinsicht auf die erste wirkliche soziale Revolution zu, die es je in ihrer Geschichte gab. Wenn sich demnächst die freundlichen und konstruktiven Tendenzen weltweit durchsetzen sollten, wäre das der Durchbruch der menschlichen Natur im Psychischen und Sozialen. Bis jetzt sind wir im Prinzip bloß biologisch wirklich Menschen, seit unsere ersten menschlichen Vorfahren als biologische Innovation aufgetaucht sind in gewöhnlichen Primatengesellschaften mit ihren Rivalitäten, Hierarchien und gewaltsamen Konfliktlösungen. Nun sind aber die Individuen der Art Homo sapiens von Natur aus intelligent genug, um begreifen zu können, daß ihre naturgegebenen möglichen Ziele und Interessen im Grunde vollkommen vereinbar sind mit den möglichen Zielen und Interessen aller ihrer Artgenossen und mit der Erhaltung der Lebensbedingungen auf der Erde. Nur wegen der sozialen Traditionen konnten sie ihre Intelligenz in dieser Hinsicht bisher bloß teilweise nutzen. Wegen der psychischen Verletzungen in den traditionellen gewaltsamen Wechselwirkungen zwischen den Individuen wird ihr abstraktes Denkvermögen systematisch immer wieder gestört.

So blieb die aus vorgeschichtlicher Zeit überlieferte gegenseitige Bekämpfung der Individuen in einem Teufelskreis bis jetzt erhalten. Überall blieb es in den sozialen Wechselbeziehungen bei den Schwankungen zwischen "gut" und "böse":

"Ein Vater 'lehrt' seinen Sohn, Schwächere 'nicht' zu schlagen"

(Friedemann Schulz von Thun: "Miteinander reden 1" Reinbek 1993, S. 231)

Bei dem bald fälligen großen Evolutionsschritt, bei dem zu unserer biologischen Art auch noch die artspezifische und für die menschliche Natur optimale Struktur von Gesellschaft (ein weltweites Netzwerk von gleichberechtigten Persönlichkeiten) entsteht, wäre das Entscheidende die Entstehung eines relativ neuen, realistischen, einfachen und freundlichen Menschenbildes, das leicht zu begreifen ist.

Stark vereinfacht kann man sagen, daß jeder Mensch von seinen produktiven Bedürfnissen und von seinen konsumtiven Bedürfnissen angetrieben ist. Ziel ist immer wieder deren Befriedigung. Demzufolge würde normalerweise jeder auch die Anstrengungen und Belastungen, die zur Erarbeitung eines angenehmen und interessanten Lebens nötig sind, gern selbst auf sich nehmen und sie selber schon als Teil eines lebenswerten Daseins gestalten. Demzufolge ist es völlig überflüssig, anderen Personen oder der natürlichen Umwelt einige von den Belastungen des eigenen Lebens aufzubürden und andere Personen auszunutzen und ihnen die Ergebnisse ihrer Arbeit zu rauben. Es ist im Gegenteil viel klüger, die Vorteile der Arbeitsteilung und der modernen Technik ganz und gar gemeinsam zu nutzen. Außerdem ist für den Menschen typisch, daß er eine unendliche Vielfalt von Verhaltensmöglichkeiten hat und damit auch eine unendliche Vielfalt von Möglichkeiten, sein Leben konkret befriedigend zu organisieren. Das bedeutet, daß jede Situation immer wieder so bewältigt werden kann, daß alle Beteiligten damit zufrieden sind.

Es dürfte sich eben in diesem Zusammenhang herausstellen, daß es praktisch keine biologischen Grundlagen für nicht friedlich lösbare Interessengegensätze zwischen Menschen mehr gibt, seit unsere spezifisch menschlichen, größeren intellektuellen Fähigkeiten in der Evolution hinzugekommen sind. Dies konnte bisher nicht ein für allemal und nicht für die ganze Menschheit entdeckt werden, weil kein gemeinsamer Leidensdruck bestand, der zur Suche nach völlig neuen Wegen gezwungen hätte, so wie heute die Gefahr eines gemeinsamen Unterganges durch die zunehmenden destruktiven Wirkungen der Technik uns zur Suche nach einem Ausweg zwingt.

Als Grundlage für diese Entdeckung kommt das schon klassische "Triebmodell" der Verhaltensbiologie in Frage, wie es von Konrad Lorenz oder Irenäus Eibl-Eibesfeldt für die Allgemeinheit beschrieben worden ist. Ute Holzkamp-Osterkamp entwickelte daraus ihre "Grundlagen der psychologischen Motivationsforschung" (Bd. 1.: 3. Aufl., Frankfurt/M., 1981; Bd. 2.: 4. unveränderte Aufl., Frankfurt/M., 1990). Felix von Cube und Dietger Alshut beschrieben das "verhaltensökologische Gleichgewicht", das bei den produktiven und konsumtiven Bedürfnissen in unserem Organismus angelegt ist und das uns interessieren sollte beim Versuch, wieder im Einklang mit der irdischen Natur und dabei vollkommen befriedigend zu leben ("Fordern statt Verwöhnen" 4. Aufl., München, 1989).

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Es ist eine vollkommen friedliche Revolution, die uns als "erste globale Revolution" (Club of Rome) und ökologische Wende bevorsteht. Bisher waren alle Menschen ausnahmslos den Systembedingungen der buchstäblich unmenschlichen alten Primatengesellschaft unterworfen, die sie zwingt, sich immer wieder gegenseitig zu schädigen und zu beleidigen, bis hin zur Gefährdung des Lebens. Diese Revolution braucht nur eine Auslösung von Denkprozessen, durch die die Menschen sich in weltweiter Kommunikation ihrer selbst und ihrer natürlichen Ziele bewußt werden. In einem Aufstand der menschlichen Natur können sie sich aus den unwürdigen alten Verhältnissen erheben und gemeinsam die Entwicklung ihres Zusammenlebens ihren natürlichen Interessen unterwerfen.

Die Öffnung der Berliner Mauer 1989 war ein praktisches Beispiel dafür, daß sich die Welt mitunter sehr schnell ändern kann. Aber 1989 waren die Bewohner der DDR vorwiegend bloß unzufrieden mit ihrem Leben und gingen zum Protest auf die Straße. Die bis dahin im Lande politisch und wirtschaftlich führenden Leute mußten um ihre Zukunft bangen.

Dagegen wird "die erste globale Revolution" stattfinden, indem schließlich alle Erdenbürger entdecken, was für ein Leben sie sich im Grunde immer gewünscht haben. Sie werden im Einklang miteinander und mit den irdischen Lebensgrundlagen ihre Träume verwirklichen. Es geht um die Entdeckung des menschlichen Eigennutz, der eben im Grunde sozialverträglich und umweltverträglich ist. Diese Revolution wird nicht auf der Straße stattfinden, sondern in den Köpfen. Sie wird sich in einer weltweiten Diskussion vollziehen, in der es um die naturgegebenen menschlichen Ziele, Bedürfnisse und Interessen geht.